Mentaltraining – Wunderwaffe in Zeiten von Corona?

Möglichkeiten und Grenzen des Mentaltrainings

Dr. Michele Ufer ist Speaker, Coach und Forscher. Er beschäftigt sich mit psychologischen Erfolgsstrategien, unter anderem in Sport und Wirtschaft. Seine Kernthemen: Motivation, Mentale Stärke, Flow und Leistung unter Druck und extremen Bedingungen; Führungs- & Grenzkompetenz. Mentale Stärke ist gerade in der aktuelle Situation wichtiger denn je? Aber was genau ist Mentaltraining und wie funktioniert es?

Mentaltraining ist zunächst einmal vor allem eines: trendy. Und ein schwammiger Begriff dazu. Wenn man heutzutage eine Reise durch das Internet startet und die Suchmaschine aktiviert, dann erhält man bei dem Suchbegriff Mentaltraining schier unzählige Ergebnisse. Die Begriffe Mentaltraining bzw. Mentalcoaching oder Mentaltrainer sind keine geschützten Begrifflichkeiten.

Und so verwundert es nicht, dass uns unter dem Label Mentaltraining ein genauso breites wie buntes Themenfeld präsentiert wird. Von sportpsychologischen Angeboten über Führungs-, Management- und Teamtraining, Seminaren zur Verbesserung von Glück, Gesundheit, Kreativität, Schnelllesefähigkeit, Lern- und Gedächtnistechniken, Flirtstrategien zur Manipulation des anderen Geschlechts, über Angebote für Demenz- und Alzheimerpatienten, bis hin zu esoterisch angehauchten Formen der Sinnsuche und Selbstverwirklichung und noch viel weiter reicht das Spektrum. Aus diesem Grund möchte ich, in Abgrenzung zu anderen Ansätzen, an dieser Stelle kurz meine Vorstellungen und die Definition aus der wissenschaftlichen Sportpsychologie von mentalem Training vorstellen.

 

MENTALTRAINING IM URSPRÜNGLICHEN, ENGEREN UND WEITEREN SINNE

DIE URSPRÜNGE

Der Begriff mentales Training kommt aus der Sportpsychologie und beschreibt ein Verfahren zur Optimierung sportlicher Bewegungsabläufe, welches ergänzend zum rein körperlichen Training eingesetzt wird. In diesem ursprünglichen Sinne bedeutet mentales Training, dass wir uns Bewegungen lediglich wiederholt vor unserem inneren Auge vorstellen, ohne diese tatsächlich auszuführen (Eberspächer, 2012). Allein das intensive gedankliche Durchspielen von Bewegungen kann sich äußerst positiv auf die tatsächlichen, realen Bewegungsabläufe auswirken. Dabei wird folgender Mechanismus genutzt:

Bereits die intensive Vorstellung einer Bewegung führt wie bei einer realen Bewegung auch zur Aktivierung der beteiligten Nerven und Muskeln. Sie ist zwar geringer als bei der realen Bewegung, aber dennoch messbar vorhanden und wirksam. Lediglich die Ausführung ist gehemmt. Das mag sich einfach anhören, wer allerdings wirklich schon mal intensiv und systematisch mental trainiert hat, weiß, dass das durchaus ganz schön anstrengend sein kann.

Wir kennen das zum Beispiel von Bobfahrern, wenn diese zur optimalen Einstimmung und Vorbereitung der Hochgeschwindigkeitsfahrt durch den Eiskanal kurz vor ihrem Rennen noch mal konzentriert und mit geschlossenen Augen den Ablauf der Fahrt vor ihrem inneren Auge durchgehen und dabei der Körper den Gedanken an die jeweiligen Steilkurven zu folgen scheint, womöglich sogar regelrecht mitschwingt. Insbesondere bei sehr komplexen Bewegungen, wie zum Beispiel dem Wasserspringen oder Kunstturnen, ist die (wiederholte) innere Vorstellung sogar eine Grundlage, um in ein sinnvolles körperliches Training einzusteigen, denn ohne eine konkrete innere Bewegungsvorstellung ist die Durchführung kaum zufriedenstellend realisierbar.

Läufer können mentales Training in diesem ursprünglichen Sinne für sich nutzen, um zum Beispiel den persönlichen Laufstil oder das Überspringen von Hürden zu verbessern, um dadurch entspannter, energiesparender, schneller unterwegs zu sein. Oder aber, um die Gelenke und den sonstigen Bewegungsapparat schonender zu belasten, um langfristig gesund zu bleiben. Hast du eine Idee, eine detaillierte innere Vorstellung darüber, wie DEIN perfekter Laufstil aussähe?

 


 

 

Michele Ufer

Mentaltraining für Läufer
Weil Laufen auch Kopfsache ist

280 Seiten
Paperback, 16,5 cm x 24,0 cm,
2. Auflage September 2017
ISBN 978-3-89899-926-7, 19,95 € [D]

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MENTALES TRAINING IM ENGEREN SINNE

Mentales Training findet mittlerweile nicht nur Anwendung bei der Optimierung von Bewegungen, sondern ganz allgemein bei sportlichen Handlungsabläufen. So können zur Vorbereitung auf einen wichtigen Lauf der komplette Ablauf eines Wettkampfs oder bestimmte Schlüsselsituationen und mögliche Probleme bereits in Gedanken durchgespielt werden, um besser vorbereitet zu sein. Es entstehen wichtige gedankliche Routinen/Automatismen, denn man weiß bereits genau und ohne groß nachzudenken, was in bestimmten Situationen oder zu bestimmten Zeiten zu tun ist. Auch manche Schwierigkeiten verlieren durch das gedankliche Probehandeln so einen Teil ihres Schreckens. Man entwickelt antizipativ Lösungsansätze und hat diese dann bei Bedarf parat.

Auch außerhalb des Sports findet dieses gedankliche Durchspielen von Handlungsabläufen erfolgreich Anwendung und wird in systematisierter Form zum Beispiel in der Ausbildung von Piloten und anderen Berufsgruppen eingesetzt, damit sie komplexe Handlungssequenzen in kritischen Situationen und unter extremem Stress souverän abrufen können, ohne darüber nachdenken zu müssen, was zu tun ist. Oder anders ausgedrückt: damit im Ernstfall jeder Handgriff einfach sitzt.

In der Regel spielen wir bestimmte Handlungen in Gedanken durch, um später in der Realität ein wünschenswertes Ergebnis zu erzielen. Aber wie genau soll dieses Ergebnis aussehen? Können wir es vor unseren inneren Augen erleben und regelrecht mit dem Körper spürbar machen? Eine Frage, die überraschend oft vernachlässigt oder verneint wird. Insofern nimmt die intensive gedankliche Vorstellung möglicher positiver Ergebnisse und Ziele eine grundlegende Rolle im Rahmen des mentalen Trainings ein. Attraktive Zielvorstellungen richten unser Verhalten in die gewünschte Richtung aus und sorgen für die entsprechende Motivation, zumindest wenn sie gut zu uns passen. In schwierigen Momenten oder wenn die Beine zwicken und die Lunge brennt, kann die Vorstellung von einer erfolgreichen Zielerreichung extrem hilfreich sein und die nötigen Kräfte freisetzen, um ambitioniert am Ball zu bleiben.

Darüber hinaus können wir mentales Training nicht nur dazu nutzen, um zukünftige Handlungen durch gedankliches Durchspielen vorzubereiten, sondern auch in der Gegenwart einsetzen, um unser Erleben und Verhalten (besser) zu steuern. Wir sind in der Lage, im Hier und Jetzt innere Bilder und Vorstellungen abzurufen, die uns auf die eine oder andere Weise weiterhelfen können. Wir können Routinen entwickeln, um negative Bilder und Vorstellungen durch positive, zieldienlichere zu ersetzen und so einen Einfluss auf unser aktuelles Erleben auszuüben.

Wir alle nutzen bereits die Möglichkeit des gedanklichen Durchspielens schwieriger, bedeutsamer Situationen nach dem Motto „Was tue ich, wenn“, bevor wir uns tatsächlich in eben diese Situationen begeben und dort beweisen wollen. Insofern ist mentales Training im engeren Sinne vielleicht nicht unbedingt etwas Neues für dich. Allerdings bleibt die Frage, inwieweit du diese Prozesse noch eine Spur pfiffiger gestalten könntest, um deine Ziele besser zu erreichen. Und wie wir im vorangegangenen Kapitel gesehen haben, können wir unsere inneren Bilder und Vorstellungen auch systematisch nutzen, um eigentlich autonom ablaufende körperliche Prozesse zu beeinflussen bzw. hervorzurufen, was ja für Sportler nicht ganz unerheblich ist.

Zusammenfassend bedeutet mentales Training im ursprünglichen und engeren Sinne, dass wir gezielt mit inneren Vorstellungen, also einer Art Training im Kopf, konstruktiven Einfluss auf unsere Emotionen, körperlichen Prozesse und Handlungen nehmen. Mit Bedacht eingesetztes Kopfkino, sozusagen.

 

MENTALES TRAINING IM WEITEREN SINNE

Mentales Training im weiteren Sinne bedeutet für mich die systematische Entwicklung und Verbesserung von Einstellungen und psychologischen Fähigkeiten, die hilfreich bei der Bewältigung konkreter Herausforderungen sind, sei es im Sport oder darüber hinaus im Job oder privaten Bereich. Die Fähigkeiten und deren Ausprägung können je nach spezifischen Herausforderungen sehr unterschiedlich sein. Wer einen 250-km-Lauf durch die Wüste absolviert, braucht etwas anders ausgeprägte mentale Qualitäten als jemand, der zur Weltspitze im 100-m-Lauf gehören will.

Weitere Infos über Dr. Michele Ufer findet ihr unter: www.micheleufer.com

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